Mareike Bernien & Alex Gerbaulet

Tiefenschärfe / Depth of Field

Mareike Bernien:
lebt und arbeitet in Berlin, GER

Alex Gerbaulet
lebt und arbeitet in Berlin, GER

Ein Tatort ist immer noch ein Ort. Nürnberg ist immer noch Nürnberg, auch wenn Nationalsozialismus und Nationalsozialistischer Untergrund (NSU) dunkle Schatten auf die Stadt geworfen haben. In ihrer dokumentarischen Annäherung versuchen Bernien und Gerbaulet, die Vielschichtigkeit der Geschichte zu erfassen. Sie zeigen hierfür die Orte, die in Verbindung mit den drei Morden stehen, die der NSU zwischen 2000 und 2005 in Nürnberg verübte und weiten im Narrativ die Dimension auf den gesamten Komplex aus.
Während eine Erzählinstanz die Einzelschicksale umreißt, das Fehlverhalten der Behörden schildert, welche die Täter*innen im direkten Umfeld der Opfer vermuteten, sowie die daraus entstandene mediale Berichterstattung und die Stigmatisierung der Opfer als Kriminelle problematisiert, mischen sich deutsche und türkische Sprache mit bayrischem Dialekt. Neben die Alltagsbeschreibungen der Opfer treten Tiefpunkte der deutschen Geschichte in Nürnberg: »Nürnberg, Stadt der Reichsparteitage, Nürnberger Gesetze, Nürnberg unter Beschuss, Nürnberger Prozess«.
Das Künstlerduo entwickelt ein multiples Narrativ, das versucht, allen Dimensionen gerecht zu werden. Mediale, persönliche und nationale Geschichte überlagern sich ebenso wie die Stadtansichten, die sich teils unvermittelt, teils nur in den Spiegelungen undurchsichtiger Fenster abbilden. Tiefenschärfe bildet so auch visuell die Strukturen der Verbrechen nach, deren Komplexität sich aus der sprachlichen Erzählung in einer Zirkulation um die Orte erschließt. Nach und nach setzt sich aus den Schauplätzen eine Stadt zusammen, deren Häuserfassaden keine sichtbaren Spuren der Gewalttaten aufweisen, die sich hier ereigneten. Allein das Kippen des Bildrahmens visualisiert als zentrales gestalterisches Mittel die Störung der Normalität und das Wegbrechen des Alltags im Ausbruch der Gewalt.
Der künstlerische Dokumentarfilm ist die erste Kollaboration der beiden Künstlerinnen und adaptiert journalistische Methoden zur Hinterfragung von historischer Kohärenz und Kontinuität.

Jana Bernhardt

Artist Statement
Tiefenschärfe ist aus Ärger, Wut und Unwohlsein sowie einer langjährigen Beschäftigung mit dem sogenannten NSU-Komplex entstanden, ein Begriff der das Zusammenwirken von rechtem Terror mit strukturellem und institutionellem Rassismus umfasst. Motivation war aber auch die Neugier an der Erforschung filmischer Mittel, die dem Ausdruck verleihen können. Im NSU-Komplex und überall, wo es um institutionellen und strukturellen Rassismus geht, wird das Verdrängen, Ignorieren und Verschieben von migrantischen Realitäten wirksam. Realität wurde im NSU-Komplex durch die Ermittlungsbehörden beispielsweise so verdreht, dass langjährig nur in Richtung der vom NSU-Terror betroffenen Familien ermittelt wurde, die selbst zu Tätern imaginiert wurden. Im NSU-Prozess am Oberlandesgericht in München wurde schließlich die Fiktion des Kerntrios mit wenigen Unterstützern aufrecht erhalten. Teile der Nebenklagevertretung haben zwar Ermittlungen in staatliche und nicht-staatliche Unterstützungskreise unternommen - und tun dies auch über das Prozessende hinaus - im Prozess wurde dies aber weitestgehend nicht aufgegriffen. Unser Film möchte das permanente Drehen und Verdrehen dieser Realitäten im NSU-Komplex aufzeigen. Dabei geht es uns darum, Risse in die Wirklichkeiten staatlicher Ermittlungsorgane und anderer deutscher Ignoranzen zu bringen.

Mareike Bernien & Alex Gerbaulet